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Das grüne Zelt

Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungart
Vorgestellt von Tobias Wenzel

Nach ihrem Buch "Daniel Stein" im Jahr 2006 hatte die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja eigentlich angekündigt, keine umfangreichen Romane mehr schreiben zu wollen. Und doch: Sie hat es wieder getan und einen fast 600 Seiten starken Roman veröffentlicht, der nun in deutscher Übersetzung unter dem Titel "Das grüne Zelt" erschienen ist.

Erinnerungen an Stalin

Vierzig Jahre russische Geschichte umspannt Ljudmila Ulitzkaja in ihrem neuen Roman "Das grüne Zelt". Der endet in den 90er Jahren und beginnt 1953 mit Stalins Tod:

"Ich erinnere mich noch gut an Stalins Tod", erzöhlt die Autorin. "Ich war damals zehn. Sie führten uns zu Stalins Grabmal. Ich stand zwischen den anderen und fühlte mich unglaublich einsam. Meine beiden Großväter saßen unter Stalin in Straflagern ein. In meiner Familie hatte also niemand warme Gefühle für Stalin übrig."

Ganz anders als in der Familie von Olga, einer der Hauptfiguren in Ljudmila Ulitzkajas nur so vor Leben strotzendem Roman. Olgas Eltern sind ganz und gar linientreu. Aber Olga setzt sich im Studium für einen kritischen Dozenten ein, fliegt von der Uni und verliebt sich in den Fotografen und Dissidenten Ilja.

Die beiden kopieren heimlich kritische Literatur. Bis Ilja in den Westen geht und eine neue Frau findet. Die zurückgelassene Olga wiederum droht an ihrer unglücklichen Liebe wahnsinnig zu werden. Eine Freundin kümmert sich um sie.

Widerstand und Verrat, Liebe und Freundschaft

Drei Männerfreunde aus Moskau stehen allerdings im Zentrum des Romans. Sanja, Micha und erwähnter Ilja freunden sich schon in der Schule an, als sie eine kleine Katze vor grausamen Kinderspielen retten:

Leseprobe:
"Sanja holte das halberstickte Kätzchen aus dem Ranzen und gab es Ilja. Der reichte es weiter an Micha. Sanja lächelte Ilja an, Ilja Micha, Micha Sanja. Ich hab ein Gedicht gemacht. Über das Kätzchen, sagte Micha schüchtern. Hier:
Ein junger Kater, wunderschön,
Der sollte beinah von uns gehn.
Ilja hat ihn vorm Tod bewahrt,
Hat ihm den schlimmen Tod erspart.
Na ja, nicht schlecht. Natürlich nicht gerade Puschkin, kommentierte Ilja."

Mit Puschkin und Tolstoi ist man "gegen die Abscheulichkeiten" des Lebens gewappnet, glaubte der Lieblingslehrer der drei Freunde. "Darin jedoch irrte er womöglich", heißt es in diesem spannenden Roman über Widerstand, Verrat, Liebe und Freundschaft.

Als später Micha, mittlerweile ein Literaturlehrer für Taubstumme, ein von Ilja illegal kopiertes Buch liest und davon begeistert einem anderen Lehrer erzählt, denunziert ihn dieser Kollege.

Von Freunden zu Dissidenten

Micha verliert seinen Job, genauso wie einst die ausgebildete Biologin Ljudmila Ulitzkaja, die heimlich Literatur verbreitet hatte. Der eigentlich mutige Dissident Ilja verpflichtet sich unter Druck zu einer Zusammenarbeit mit dem KGB.

Niemand ging unbeschadet aus dieser Zeit hervor - das ist die politische Aussage in Ljudmila Ulitzkajas neuem Roman. Eine Gedächtnisauffrischung für jene Russen, die sich heute wieder den Kommunismus oder gar Stalin herbeiwünschen.

Ljudmila sagt zu dem neu aufblühendem Stalinismus: "In diesem Land gibt es so viele Dinge, die man nicht erklären kann. Und diese Tatsache gehört dazu."

Erstaunliche Fabulierkunst

Unerklärlich ist auch die Fabulierkunst Ljudmila Ulitzkajas. Denn nicht mit ihrer (eher alltäglichen) Sprache fesselt sie den Leser, sondern mit einer schier unerschöpflichen Quelle aus Geschichten, die, egal, ob traurig, amüsant oder fatal, immer geprägt sind vom philanthropischen Blick der Autorin.

Der Roman "Das grüne Zelt" ist die Ausarbeitung einer nie veröffentlichten Erzählung über drei Schulfreunde. Und doch scheint jedes einzelne Kapitel dieses Buchs wiederum ausreichend Stoff für einen weiteren Roman herzugeben. Man sollte all diese blutleer schreibenden Autoren verpflichten, "Das grüne Zelt" zu lesen.

Autoren-Lesungen in Deutschland

Im November kommt Ljudmila Ulitzkaja nach Deutschland, um ihren neuen Roman auf einer Lesereise vorzustellen:

  • 22.11.2012  Dresden, Buchhaus Loschwitz
  • 23.11.2012  Erfurt, Festival "Erfurter Herbstlese"
  • 26.11.2012  Leipzig, Haus des Buches/Literaturhaus
  • 27.11.2012  Stuttgart, Literaturhaus
  • 28.11.2012  Freiburg, Buchhandlung Rombach
  • 29.11.2012  Heidelberg, DAI – Deutsch Amerikanisches Institut


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